AFFIRMATION
Rolf Bossart: Gute Kunst muss kritisch sein. Das ist der unhintergehbare Imperativ der Postmoderne. Das Adjektiv affirmativ bezeichnet hingegen eine Kunst, die diesen Auftrag verrät. Es gibt aber in letzter Zeit eine Rehabilitierung des Affirmativen, denken wir an Alain Badious „Manifest des Affirmationismus“. In welcher Weise könnte man in Bezug auf dein Theater von einer affirmativen Ästhetik sprechen?
Milo Rau: Ich denke, dass mein Theater – und auch meine Filme – nichts anderes sind als eine ständige Affirmation: eine Affirmation der Darstellung, der Wahrheit, der Schönheit, der Gerechtigkeit. Was kann denn ein Realismus nach der Postmoderne anderes sein als der Versuch, dieses grossartige, naive, kraftvolle und gescheiterte „Ja!“ der Moderne zu wiederholen? Darunter verstehe ich nicht die Geste der Über-Identifikation, wobei ich natürlich manchmal zu ihr greife, etwa im „Europa-Manifest“ (àEUROPA). Nein, ich meine etwas viel Allgemeineres, etwas zugleich Monumentaleres und Zerbrechlicheres: Dass der Naturalismus der Schilderung, die totale Subjektivität im ästhetischen Zugriff und das Universale, das Zu-Allen-Sprechen zusammengehören. Affirmation ist eine künstlerische Methode, die Badiou sehr treffend als „proletarischen Aristokratismus“ beschrieben und gegen die sogenannte Bescheidenheit, aber auch gegen den Kult des Authentischen gesetzt hat. Die Methode der Affirmation entdeckt im Subjektiven das kollektive humane Projekt, ohne aber das Geringste des subjektiven Überschusses abzugeben. Für mich ist jeder Schauspieler, jeder Mensch, den ich interviewe, mit dem ich arbeite, der erste und der letzte, der exemplarische Mensch. Die Methode des Affirmativen ist also in einem Satz: Das Spezifische ins Exemplarische zu führen, ohne das Geringste vom Spezifischen aufzugeben.
Rolf Bossart: Tobias Becker schreibt in „Der Spiegel“ über die Schauspieler von „The Dark Ages“: „Sie sprechen die Texte, die doch ihre sind, als seien sie von einem anderen Autor. Der Effekt: Die persönlichen, rein privaten Geschichten bekommen einen Dreh ins Allgemeinmenschliche.“ Ich glaube, das ist die Behauptung von „The Dark Ages“ und des Vorgängerstücks „The Civil Wars“: Die allgemeine Geschichte der Anderen ist identisch mit der spezifischen, am eigenen Leib erlittenen des Einzelnen. Es gibt also eine allgemeine Geschichte (UNIVERSALGESCHICHTE), und das ist nicht irgendeine, sondern es ist gleichzeitig die, die der Einzelne von sich selber erzählen kann. Stimmt dieser Eindruck?
Milo Rau: Was den Menschen über das Dingliche erhebt, ist allein und ausschliesslich seine Geschichtlichkeit, das Mit-den-Anderen-Sein. „The Civil Wars“ und „The Dark Ages“ inszeniert diese Kollektivität nun als zugleich diachrone (also fatale) und synchrone (also engagierte): Man ist die Marionette einer Geschichte, die man nicht gewählt hat, und von der man also nur berichten kann, so wie man vom Verlauf einer Krankheit berichtet. Aber zugleich ist man Darsteller der Situation, in der man sie erzählt, und man erzählt sie mit und für andere. Es würde für mich keinen Sinn machen, eine Bühne für diese Privat-Geschichten zu benutzen, wenn sie nicht nötig wäre als Ort dieser einfachsten Allegorie: der Verwandlung von Schicksal in Erzählung. Man kann sagen, dass verglichen mit „The Civil Wars“ und „The Dark Ages“ meine früheren Stücke noch gewisse Eingeständnisse und Umwege machen. Hier gibt es keine Umwege mehr: Die beiden Stücke sind zweifellos die direktesten Arbeiten, die ich bisher gemacht habe, „Ich“ und „Geschichte“ kommen in einem maximal einfachen Akt zur Einheit – indem nämlich das sogenannte „Ich“ sich selbst erzählt durch das, was ihm widerfahren ist.
Rolf Bossart: Kannst du etwas über diese Umwege sagen, wo sie nötig sind und wie sie umgangen oder aufgehoben werden können?
Milo Rau: Die Umwege, die ich in meinen Projekten mache, sind von aussen betrachtet schwer nachzuvollziehen. Wir recherchieren ja oft jahrelang für ein Projekt, um am Ende dann über etwas völlig anderes zu sprechen. „Die Moskauer Prozesse“ sollten zuerst ein Stück über den 2. Moskauer Prozess von 1937 gegen Bucharin sein, nach zwei Jahren war es ein Live-Tribunal, eine Wiederaufnahme von Fällen aus den Nullerjahren. Oder für „Hate Radio“ habe ich mehrere Monate in Ruanda recherchiert, um schliesslich eine Radiostation zu erfinden, die mit dem eigentlichen RTLM von 1994 nicht mehr viel zu tun hatte – sondern eher mit einer westlichen Piratenstation. Bei „The Civil Wars“ schliesslich begannen wir damit, dass wir junge belgische Djihadisten und ihre Familien begleitet haben: die Radikalisierung der Söhne, ihr Verschwinden, ihr Tod, der Wahnsinn und die Gewalttätigkeit ihrer Väter, die Frage des Glaubens und des Engagements. Das haben wir alles aufgezeichnet, aber schliesslich nicht direkt dokumentarisch verwendet, sondern eher als eine Art Kraftfeld, eine Leseanleitung, mit der die Biographien der Schauspieler politisch erzählbar wurden. Und so wurde das Privateste sichtbar als Metapher, als Allegorie des Erhabenen: der Kleinbürger ein Gotteskrieger, der Vorortjunge auf der Suche nach dem Absoluten…
Rolf Bossart: Man könnte also von einer Aufhebung im Hegelianischen Sinn sprechen: In der finalen Erzählung bleibt der Weg dorthin als Potenz, als Qualität sichtbar.
Milo Rau: Ja. Diese „Anreicherung“ des Sinns ist die eigentliche Arbeit im Theater, jedenfalls so, wie ich diese Form verstehe. Die Postmoderne verkompliziert ja die ursprüngliche Form dekorativ oder kritisch. An die Stelle der hergestellten Einfachheit – der sie misstraut – setzt sie die Authentizität des Augenblicks. Die Moderne aber, der ich anhänge, sucht die mathematische Präzision, die Konstruktion von Präsenz: die fast zerspringende Anreicherung und im Endeffekt demütige Einfachheit der fugischen Struktur, die Ersetzung des Authentischen durch die Intelligenz der bewusst hergestellten emotionalen Form. Als ich Mitte zwanzig war, war meine damalige Freundin Peter Zadeks Assistentin, was dazu führte, dass wir einen kleinen Zadek-Kult installierten in unserer WG. Zadek war ja lange Formalist gewesen, gegen Ende seines Lebens wurde er aber zu einer Art Puristen der Emotion, die er hinwiederum formalisierte: Wann schreit man seinen Assistenten an und vor wie vielen Zeugen, um „Spannung“ herzustellen? Wie gestaltet man diese Liebe zu den Darstellern, die in der Schwebe bleibt zwischen Forderung und Aufgehobenheit? Wie geht man mit Technikern um? Ich erinnere mich, dass Zadek sagte: Alles, was in den Proben passiert, wird auf der Bühne sichtbar sein. Das stimmt normalerweise nur in einem übertragenen Sinn, aber manchmal stimmt es ganz wortwörtlich. Zum Beispiel habe ich in „The Dark Ages“ mit Valery Tscheplanowa gearbeitet, der letzten „Muse“ von Dimiter Gotscheff. Es ist wirklich berührend, wie die Zugewandtheit dieses Mannes in seiner letzten Regiearbeit – „Zement“ im Residenztheater – in Tscheplanowas Bühnenpräsenz sichtbar wird: Sie steht in einem völlig anderen, sanfteren Licht als ihre Mitspieler. Gleichzeitig ist da der Tod Gotscheffs, sichtbar als eine helle Trauer, eine Art Dienst am ganz realen Tod dieses Menschen… Die Liebe ist also ein „Umweg“ auf der Bühne, quasi ein Mittel der Lichtregie, fast wie in der religiösen Malerei…
Rolf Bossart: Es sind nicht wir selber, die leuchten. Es braucht immer jemanden oder etwas, das uns leuchtend macht. Aber weil es gleichzeitig vieles gibt, das in uns anklingen und uns entzünden kann, existiert auch eine schier unerschöpfliche Fülle von Techniken der Menschendarstellung bis zur Menschenführung. Aber die Frage beispielsweise, warum irgendwann im 17. Jahrhundert das Leuchten der Mutter Gottes auf den grossen Tableaus in den Kirchen erlischt beziehungsweise kitschig wird, warum der eine Schauspieler einen berührt, egal, was er spielt und der andere einen kalt lässt oder warum dem einen ein Stück unglaublich bedeutend und dem anderen ärgerlich banal vorkommt, ist dann eben doch nie eine rein technische. Aber sie liegt auch nicht nur im Auge des Betrachters. Vielmehr glaube ich, dass es heute jenseits der individuellen Rezeptions-Vielfalt (REZEPTIVITÄT), den Willen des Künstlers braucht, für die Wirkung seiner Werke eine Art Verantwortung zu übernehmen. Nennen wir ihn den Willen zur Affirmation. Inwiefern arbeitest du mit diesem Willen?
Milo Rau: Ich würde von einer „unmöglichen Verantwortung“ sprechen. Denn im affirmativen Akt übernimmt der Künstler ja die Verantwortung für etwas, für das er normalerweise als Person keine Verantwortung übernehmen kann oder will: zum Beispiel für den rassistischen Diskurs in „Hate Radio“, für die Verteidigungsrede des Rechtsterroristen Breivik in „Breiviks Erklärung“ oder für die extrem intimen Enthüllungen in „The Civil Wars“. Auch meine oberflächlich betrachtet sehr eindeutig linksaktivistischen Prozess-Projekte sind zweideutig: In Moskau wären Pussy Riot und die anderen Künstler fast noch einmal verurteilt worden, in Zürich gewann die Weltwoche 6:1, und da wurde ich ja tatsächlich gefragt: „Wie ist es denn so, für diesen Freispruch verantwortlich zu sein?“ Kurzum, es entsteht eine widersprüchliche Situation, eine völlig unkontrollierbare Öffentlichkeit, die ich ja an anderer Stelle einmal „heroisch“ genannt habe (HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT).
Rolf Bossart: Was bedeutet das für deine Darsteller? Wie gehen die Schauspieler mit solchen Situationen um?
Milo Rau: Ich schreibe diese Zeilen, während ich in Bukavu das „Kongo Tribunal“ vorbereite. Vor ein paar Tagen haben wir im Wald vor der Stadt einen Studentenführer getroffen, unseren Hauptzeugen in einem der drei Fälle, die wir verhandeln werden (das Massaker von Mutarule). Er hat ein paar Morddrohungen erhalten, unter anderem direkt vom Gouverneur, und traut sich nicht mehr in die Stadt. Eine Mitarbeiterin sagte nach dem Treffen zu mir: „Willst du ihm nicht sagen, dass es kein richtiger Prozess wird?“ Ich habe geantwortet: „Aber natürlich wird es ein richtiger Prozess.“ Im Kontext des kongolesischen Justizsystems sogar ein „richtigerer“ als die „richtigen“, um genau zu sein. Anders gesagt: Es gibt in meinen Projekten kein Als-Ob, keine Reserve. Das ist natürlich in klassischeren Formaten, etwa den „Civil Wars“ oder den „Dark Ages“ schwieriger: dieses Bewusstsein herzustellen, etwas Wichtigeres, Notwendigeres, Entscheidenderes, letztlich Realeres zu tun als im sogenannt „wirklichen Leben“. Meine Ausbildung als Soziologe hat mich zum Glück vor dieser unfruchtbaren Unterscheidung von „Wirklichkeit“ und „Kunst“ bewahrt, denn es ist ja ohnehin alles Menschliche reflexiv oder künstlich, es gibt keinen Menschen jenseits seines kulturellen oder individuellen Selbstbewusstseins. Meine Arbeit als Regisseur besteht also kurz gesagt darin, die Affirmation des theatralen Akts zu gewährleisten, d. h. mit allen Mitteln zu verhindern, dass partikulare (je nach Schauspieler sentimentale oder analytische) Gesichtspunkte sichtbar werden. Obwohl das in der Eile oft nicht möglich ist – weil ein Schauspieler zusammenbricht oder sich aus karrieretechnischen oder sonstigen Gründen schützen will – sorge ich dafür, dass zu Ende der Proben die Regieposition „leer“ wird, dass die Verantwortung auf die Spieler übergeht.
Rolf Bossart: Wie läuft das konkret ab?
Milo Rau: In den ersten Wochen ist meine Probenarbeit sehr intim, sehr privat, aber ab einem gewissen Punkt beschäftige ich mich ostentativ nur noch mit der Technik oder der Dramaturgie des jeweiligen Abends. Im Übrigen lasse ich von Anfang an durchscheinen, dass nichts ganz umsonst ist, auch meine Sympathie nicht. Die Schauspieler beginnen sich dann untereinander zu helfen. Auch das ist übrigens eine Lehre von Peter Zadek: Der Regisseur ist nicht der weise Vater, er gibt keine Anweisungen, er ist der Typ, der den anderen einen Rahmen gibt (ein Skript, eine Dramaturgie, ein Bühnenbild), in dem sie die Verantwortung übernehmen müssen. Das Allerschlimmste und Allerdümmste sind meines Erachtens Regisseure, die ihren Schauspielern etwas vorspielen – obwohl ich das manchmal in der Eile natürlich auch tue. Das Ideal der Regie ist ein Mensch, der ausser technischen Hinweisen nichts sagt, wie jener Interviewer, der sein Gerät einstellt und dann nur ab und zu mit dem Kopf nickt (REZEPTIVITÄT). Sich für die Affirmation zu entscheiden, bedeutet also, ein zugleich (im Aussenblick) völlig geschlossenes und (im Innenblick) völlig offenes Kunstwerk zu schaffen. In meinen Stücken haben die Schauspieler in Wahrheit nur sich selbst, um sich über die Richtigkeit ihres Tuns zu versichern – gleichzeitig präsentieren sie diese absolute Unsicherheit aber in der Form der absoluten Affirmation. Was natürlich dazu führt, dass Innen- und Aussenblick in der Kritik oft verwechselt werden, als wäre das, was auf der Bühne gesprochen wird, nicht „Erzählung“, sondern „Meinung“.
Rolf Bossart: Das stimmt. Man hat dir bei verschiedenen Projekten zum Beispiel den „Moskauer“ und den „Zürcher Prozessen“ immer wieder den Vorwurf der Verbrüderung mit den „bad guys“ gemacht. Denselben Vorwurf machte man Joshua Oppenheimer bei seinem Film „The Act of Killing“. Er sei zu freundschaftlich mit den Mördern umgegangen. Das heisst, man vermisst bei euch das zentrale Moment des moralischen Künstlers, die kritische Distanz.
Milo Rau: Nach den „Moskauer Prozessen“ las ich irgendwo in einem linken Theaterblatt, ich sei ein Faschist, denn ich hatte ja einer ganzen Reihe von Faschisten vor der Kamera mit strahlendem Lächeln die Hand geschüttelt. Das gleiche nach den „Zürcher Prozessen“, wo ich einer rechtsnationalen Zeitung zu einem rauschenden Sieg verhalf, und genauso wird es auch nach dem „Kongo Tribunal“ sein. Seit „The Dark Ages“ und „The Civil Wars“ gelte ich zudem als Neo-Traditionalist, was ja im Vokabular der Theaterkritik auch nicht wirklich was anderes als Faschismus ist. Einerseits amüsiere ich mich natürlich über diese postmodernen intellektuellen Ticks, die den herummäkelnden Kleinbürger seltsamerweise zur moralischen Leitfigur unserer Zeit gemacht haben. Andererseits geht das alles vorbei: Wir stehen am Anfang einer neuen Kunstepoche, es macht keinen Sinn, sich jetzt noch vor einem sterbenden Zeitalter zu verbeugen – vor allem deshalb, weil all diese pseudo-kritischen Affekte ja auch noch in mir stecken, so wie der Militarismus unseren Grosseltern in den Gliedern steckte.
Rolf Bossart: In „The Dark Ages“ steht gegen Schluss der Laienschauspieler Sudbin Music, der 1991 als Jugendlicher ein Massaker im bosnischen Prijedor überlebt hat, auf dem Balkon und spricht mit dem Worten Hamlets. Was zeigt diese Hinwendung, diese Identifikation?
Milo Rau: Das ist Identifikation, ja, aber im Sartreschen Sinn: als tragischer Akt der Freiheit. Vom dramaturgischen Gesichtspunkt aus ging es mir hier darum zu zeigen, was eine „Figur“ ist: Eine Individualität (in diesem Fall Sudbin Music), angereichert mit Schicksal und jenem unserer Spezies eigenen Trotz, den man Humanität nennen könnte. Ein Mensch ist ein Jemand, dem etwas „widerfährt“ und der deshalb zu etwas „wird“, als das er sich schliesslich „erkennt“: in der Formalisierung von „The Dark Ages“ ist das „Hamlet“. Was sieht man also in dieser Balkon-Szene? Man sieht einen Menschen, der das, was ihm geschehen ist – Massaker, Vertreibung, das Fehlen von Gerechtigkeit -, als SCHICKSAL wählt.