„Wünschen sie die Erlösung Europas?“
Einleitung zu Milo Raus Rede an die Europäer anlässlich der Premiere von „Dark Ages“, München 11.4.2015

Seit sich 1998 – nach 53 Jahren Kriegsabstinenz – deutsche Streitkräfte am Nato-Bombardement auf Serbien beteiligt hatten und Deutschland von diesem Zeitpunkt an Schritt für Schritt den Weg zurück in die kontinentale und globale Machtpolitik geht, scheint die europäische Frage neu gestellt. Es ist nicht entschieden inwiefern heute Deutschland wiederum das Schicksal für Europa ist oder ob die europäische Einigung noch immer das Schicksal für die Deutschen sein kann. Reicht ein deutscher Hegemon aus, um das neo-imperialistische Projekt zu dirigieren, mit dem Europa unter dem Druck der globalisierten Märkte und der Rohstoff- und Klimakrisen die Flucht nach vorne angetreten hat? Oder gibt es doch noch einen europäischen Souverän? Und wäre gar ein anderer europäischer Weg denkbar?

Wie auch immer die Dinge sich entwickeln, die aktuelle, staatsrechtlich ungeregelte Situation mit faktischen Vollzugsgewalten Deutschlands in der EU ruft auch in Erinnerung, in welcher Weise die Nationalsozialisten ein geeintes Europa verstanden hatten: Als deutscher Führungsanspruch, der sich organisch aus einer real existierenden Machtstellung ergibt. So heisst es in einem Entwurf für eine Denkschrift des nationalsozialistischen Auswärtigen Amtes über die Schaffung eines europäischen Staatenbundes von 1943: „Die ungeahnten Fortschritte der Technik, die Schrumpfung der Entfernungen infolge der modernen Verkehrsmittel, die ungeheure Steigerung der Reichweite und Zerstörungskraft der Waffen (Luftwaffe), die gewaltige Last der Rüstungen und der Zug der Zeit, weite Zusammenhänge zu schaffen und große Räume gemeinsamer Erzeugung und Bewirtschaftung herzustellen, nötigen Europa zum engeren Zusammenschluss. Europa ist zu klein geworden für sich befehdende und sich gegenseitig absperrende Souveränitäten. Ein in sich zerspaltenes Europa ist auch zu schwach, um sich in der Welt in seiner Eigenart und Eigenkraft zu behaupten und sich den Frieden zu erhalten.“ (…) „Wenn die Führung ein Vorrecht der stärksten Mächte ist, so bedeutet sie für diese auch die Verpflichtung, nur für den europäischen Frieden, Fortschritt und Wohlstand wirksam zu werden und sich auf das zu beschränken, was die Notwendigkeiten des europäischen Zusammenlebens unbedingt erfordern. Die Führung der Achsenmächte in Europa ist eine Tatsache, die sich aus den politischen Gegebenheiten von selbst ergibt. Einer besonderen Verankerung in der Verfassung des Staatenbundes bedarf sie, um sich auszuwirken, nicht. Ob und in welcher Form dieser Tatsache in der Verfassung des Bundes formaler Ausdruck verliehen wird, ist eine Frage, die nach Zweckmäßigkeitsgründen beurteilt werden muss.“

Und entsprechend fällt bereits in Raus Anrede: „Deutsche! Europäer!“ die ganze Unklarheit und Schwierigkeit des aktuellen Verhältnisses zwischen Deutschland und Europa ins Gewicht. Denn es ist keineswegs klar, an wen sich die Rede richtet. Beschwört die doppelte Evokation der Namen eine unüberbrückbare Differenz oder eine koexistente Doppelbürgerschaft? Richtet sich Rau durch seine Schauspieler an die Deutschen auf der einen und die Europäer auf der anderen Seite als Angehörige verschiedener Gruppen? Oder an die Deutschen, die auch Europäer sind? Oder an die Deutschen, die erst dadurch, dass sie auch Europäer sind, ihre wahre Daseinsform gefunden haben? Oder an die Deutschen als ein beliebiges Beispiel von Bewohnern des neoimperialen Europas? Oder an Europäer, deren Prototypen und zuerst zu Nennende die Deutschen sind?
„Deutsche! Europäer!“ nicht knapper und nicht klarer könnte man den Finger auf die Brisanz dieses unausgegorenen Verhältnisses legen. Und daher wäre es auch ein grosses Missverständnis, die stählerne Zweideutigkeit dieser Rede in einem Reflex der „critique automatique“ (vgl. Rau in: Was tun?“) vorschnell auf die eine oder andere Seite harmonisch aufzulösen oder sie in die gutbürgerlichen Denkschubladen der Ironie oder des Zynismus zu versorgen.
In seinem Essayband „Althussers Hände“ wird Rau in einer Traumsequenz von einem Mädchen mit weissem Pferd gefragt: „Wünschen sie die Erlösung Europas?“ Worauf dieser dankend ablehnt. Die spontane Verneinung ist vor dem Hintergrund dieser Rede lesbar als ein reales Nichtwissen, wovon denn Europa zu erlösen wäre. Denn es ist keineswegs ausgemacht, ob nicht beispielsweise die Erlösung von seinem imperialistischen Geist in der gegenwärtigen Weltlage auch zusammenfallen würde mit seinem Untergang. Von diesem Nichtwissen und der unangenehmen Härte, sich ihm wirklich zu stellen, handelt diese kleine, beunruhigende Rede.

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