Rolf Bossart: Es kommt in deinen Stücken immer drauf an, alles zu zeigen, nichts zu verschweigen oder auszulassen. Das bedeutet: Entscheidend für die Vorbereitung und die RECHERCHE ist deine maximale Empfänglichkeit, damit dir nichts entgeht, damit dir alles gesagt wird. Wie machst du dich in dieser Weise empfänglich?

Milo Rau: In Wahrheit ist die „Vollständigkeit“ in meinen Stücken das Resultat durchgängiger Montage, also Fiktionalisierung. Denn irgendwann, mit Ende 20, habe ich mich gegen analytische, im Brechtschen Sinn epische Oberflächen-Formen entschieden, die ich bis dahin fast ekstatisch (EKSTASE) zelebriert hatte. Die Frage, die sich mir stellt, ist also die nach der inneren Spannung der hermetischen Einheit, was beim realistischen Arbeiten nach der Postmoderne ja das primäre Problem ist. Warum „genau so“ und nicht anders – wenn das „genau so“ nicht als Authentisches oder Ironisches legitimiert ist? Ich löse dies, indem ich die gute alte Tradition des Autor-Regisseurs etwas übertreibe: Für mich beginnt eine Inszenierung mit dem ersten Tag der RECHERCHE, mit einem maximal rezeptiven Einklingen, einem Durchdringen-Lassen von der Atmosphäre, der Stimmlichkeit eines Themas. Im Grund bin ich ein Method-Actor, aber eben als Regisseur, weshalb mich Bescheidwissen (vor allem, wenn es pseudo-postkolonial als „Ich-weiss-dass-ich-nichts-weiss“ getarnt ist) zur Weissglut treibt. Als Künstler interessiert mich „Wissen“ einfach nicht. Denn es geht ja nicht um das analytische Beherrschen eines thematischen Zusammenhangs, sondern um ein instinktives „Können“. Im Grund muss ich mich also bei jedem Projekt so lange von Rede, von Figuren-Präsenz durchdringen lassen, bis ich auch „so“ sprechen kann – wie ein Genozidüberlebender, wie ein Rechtsradikaler und sofort.

Rolf Bossart: Beim REENACTMENT „Die letzten Tage der Ceausescus“, war ja dein eigener Ausgangspunkt die Erinnerung an die Filmaufnahmen der Erschiessung des Diktatoren-Ehepaars Ceausescu 1989. Wie habt ihr euch auf die Tatsache vorbereitet, dass auch alle eure Zeugen diese TV-Bilder gesehen haben und möglicherweise zu euch als TV-Zuschauer und nicht als Zeitzeugen sprechen würden?

Milo Rau: Das ist immer so: Die Interviewten wissen (oder glauben zu wissen), was der Interviewer weiss. Den „naiven“ Interviewten, der völlig in seinen selbstgerechten lokalen oder Milieu-bedingten Mythen aufgeht und keine mediale Beobachterposition einnimmt, gibt es nur im Soziologie-Proseminar. Man kann das auch ganz klassisch Misstrauen nennen: Interviewte haben eine ziemlich klare Vorstellung davon, was „man gehört“ hat. Das war z. B. beim „Kongo Tribunal“ ein grosses Problem bei Interviews mit Milizen oder Angestellten der Minenfirmen: Diese Leute wissen, was ein europäischer Dokumentarfilmer von ihnen denkt, was die Medien über sie berichten, sie sind ja nicht blöd. Einerseits ist es da natürlich wichtig, Bescheid zu wissen, schnell zu verstehen zu geben, dass man über die gängigsten Medien-Vorurteile hinweg ist. Andererseits bin ich an technischen Vorgängen interessiert: „Ja, wie war es denn genau?“, frage ich. „Wer klopft denn bei Minute 17 an die Tür hinten im Off?“ „Wann genau wird nun die Mine geöffnet?“ „Wieviele Einheimische sind denn im mittleren Kader?“ Denn in Wahrheit ist ja das mediale, also sogenannt technische Gedächtnis extrem ungenau, viel mythischer und archaischer strukturiert als jedes biografische Erinnern. Und so kommt man – das allgemein Bekannte korrigierend, erweiternd – ins Erzählen hinein.

Rolf Bossart: Ein Erzählen also, das seine Quelle in einem körperlich gespeicherten Schockerlebnis hat, in dem, was Marcel Proust unwillkürliche Erinnerung (mémoire involontaire) genannt hat. Sprechen wir noch etwas konkreter über die Situation des Interviews, dort wo es am schwierigsten scheint. Wie hört man beispielsweise einem Nazi, einem Völkermörder zu, dass er „alles sagt“? Wie hört man einer Privat-Person zu, dass sie „das Privateste preisgibt“? Wie stellt man diese hermeneutische Situation des „du darfst hier alles und alles ist möglich“ her?

Milo Rau: Für mich ist das das Einfachste. Ich habe noch nie Distanz zu einem Menschen empfunden, wenn ich wirklich mit ihm zusammen war, ich habe ein Leben nie als moralische Grösse, sondern immer als etwas Materielles, Organisches empfunden, als etwas, in das ich also problemlos eintreten kann, einfach weil ich auch ein Mensch bin. Vielleicht ist es das intensive Beisammensein mit Romanfiguren, das exzessive Lesen ab meinem 7. Lebensjahr: diese völlige Demokratie, die man von den russischen Realisten kennt, die ein auf dem Schlachtfeld verdurstendes Pferd genauso ausführlich beschreiben wie eine Dame am Hof des Zaren. Ich erinnere mich z. B. gern an die Abende, die ich mit dem letzten überlebenden SS-Offizier der Flämischen Legion über die Belagerung von Leningrad sprach: Das war für mich genauso, als würde ich Ernst Jünger lesen, einer der Lieblingsautoren meiner Kindheit. Dahinter steckt kein soziologisches Interesse, sondern es ist tatsächlich eine Form der Dankbarkeit, eine Form der fast kindlichen Hingerissenheit – was sich manchmal fast zu einer Form momentaner Verliebtheit steigert: nichts reinigt mich so sehr wie Zuhören, im Grund bin ich ein Groupie des Zuhörens. Denn ich brauche dieses Reden ja für meine Arbeit. Und ich denke, dieses Bedürfnis wird meinen Interview-Partnern spürbar: Als Gefühl, an einer Arbeit teilzunehmen und nicht nur „über sich selbst“ zu sprechen.

Rolf Bossart: Wie hörst du einem Opfer zu, dass es nicht nur als Opfer spricht?

Milo Rau: Was jemandem als Opfer widerfährt ist paradox, d. h. es widerfährt ihm völlig allein unter den Augen der anderen, also in Präsenz jenes Blicks, der ihn ja gerade zum Menschen machen sollte. Viktimisierung ist Vereinsamung durch Versachlichung. Sartre beschreibt das ja sehr genau in Bezug auf den Antisemitismus: dieses ekelhafte, lähmende Entdeckt-Werden durch „die anderen“. Erzählen ist aber maximale Kollektivität (oder besser: situative, realisierte Kollektivität), und biografisches Erzählen ist Selbstentwurf. Einem Opfer zuhören heisst deshalb, in eine gemeinsame Aktivität hineinzukommen. Was ich deshalb bei Gesprächen mit Überlebenden (zum Beispiel des ruandischen Genozids oder eines Massakers im Kongo) mache, ist ein technischer Vorgang: Ich versuche, die Dinge zu situieren, die Uhrzeiten zu fixieren, den genauen Ablauf zu klären. Und dann entwickelt sich etwas, man kommt in ein Verstehen hinein, bis hin zu den Idiosynkrasien. Die für mich dafür typische Stelle z. B. in den Opfer-Monologen bei „Hate Radio“ ist die, als ein Mädchen davon erzählt, wie sie bei Studenten-Partys mit ihrer Schwester Scherze macht, wenn sie gemeinsam auf Toilette gehen: „Wenn die Klo-Tür zu ist, bist du tot“ – denn während des Genozids hatte man versucht, sie in einer Latrine zu ertränken. In dieser Hinsicht gibt es, ausser bei pathologischen Fällen, keinen Unterschied zwischen Opfer- und Tätererzählungen. Es gibt immer diesen einen Punkt, an dem sich das Nicht-Beschreibbare in den Alltag einschreibt, quasi zum Witz wird, in dem das Opfer das Passivitäts-Paradox überwindet. Und diesen Punkt suche ich.