Buchenwald, Bukavu, Bochum
Was ist globaler Realismus?*

Rolf Bossart: Der Neue Realismus wird von Kritikern gerne als kurzlebige Mode bezeichnet. Wie bist du selber zum Realismus gekommen? Oder konkreter gefragt: Wie lang ist der Weg von deinem Soziologie-Studium, als du nach Chiapas zu den Zapatisten gefahren bist und während der Jugoslawienkriege Grossdemonstrationen organisiert hast, bis zum „Kongo Tribunal“?

Milo Rau: Ich bin ja erst mit Ende zwanzig sowas wie ein „Künstler“ geworden. Zu Beginn meiner Arbeit als Regisseur in den späten 90ern war ich im Grund reiner Aktivist. Wir haben diese Massendemonstrationen gegen die beginnenden Privatisierungen des öffentlichen Sektors und gegen die damalige Flüchtlingspolitik gemacht, zusammen mit serbischen, französischen, lateinamerikanischen und russischen Aktivisten. Die Fragen, die sich mir damals stellten, waren praktischer Art: Wie baut man einen Demonstrationszug aus 5000 Leuten? Wie organisiert man ein Meeting im Dschungel mit zapatistischen Millizionären? Wie formuliert man eine Petition oder ein Manifest, damit es Wirkung zeigt? Etwa gleichzeitig nahm, durch mein Studium bei Pierre Bourdieu in Paris und durch meine Arbeit als Reporter, eine Art Realitätssucht von mir Besitz. Ich wollte dorthin gehen, wo ich mir die Dinge anschauen, sie face-to-face beschreiben und bekämpfen konnte. Ich begann also, nach Afrika zu reisen, nach Südamerika, nach Russland und an dem zu arbeiten, was ich heute den „globalen Realismus“ nenne: an der Beschreibung dieses weltumspannenden Innenraums des Kapitals, seiner Alpträume und Hoffnungen, seiner Unter- und Gegenwelten.

Rolf Bossart: Wenn man sich deine Arbeiten der letzten 10 Jahre anguckt, ob als Autor oder Regisseur, so gibt es eigentlich keine klare Linie. Oder anders ausgedrückt: verwirrend ist die Mischung von direktem, eigentlich realpolitischem Aktivismus, eher surrealen Formaten und klassischen Stücken. So hast du 2010 etwa im Rahmen deiner zuerst verbotenen Inszenierung „City of Change“ unter dem Motto „I’m missing you, Democracy!“ eine Bewegung zur Einführung des Ausländerstimmrechts in der Schweiz gegründet und gleichzeitig in „Hate Radio“ mit ruandischen Schauspielern ein Völkermordradio wieder zum Leben erweckt. Letztes Jahr hast du mitten im Bürgerkriegsgebiet einen Volksprozess mit 1000 Teilnehmern gegen die kongolesische Regierung organisiert, gleichzeitig aber tourst du mit sehr intimen Erzählstücken wie „The Civil Wars“ durch Europa. Du drehst Videoclips mit Laibach auf dem Reichsparteitagsgelände und publizierst linksaktivistische Essays. Was ist, ganz naiv gefragt, der Standpunkt des realistischen Künstlers in diesem wirren formalen Durcheinander? Welches sind die Mittel seines Zugriffs auf die Wirklichkeit?

Milo Rau: Die Antwort lautet vielleicht: totale Offenheit. Ich habe im Sommer einen Workshop an der Biennale in Venedig gegeben zum Thema „Theater des Realen“. Dort fiel mir auf, dass sich die Regisseure und Schauspieler, die sich bei mir eingeschrieben hatten, dachten: Der Typ zeigt uns jetzt die fünf Schritte, die man ausführen muss, und am Ende haben wir „Das Kongo Tribunal“, „The Dark Ages“ und einen Skandal am Hals. Aber da gibt es keine fünf Schritte, denn im Grund ist „Realismus“ als ästhetische Methode ein Mangelzustand: nämlich zu akzeptieren, dass man nicht weiss, wie es geht, dass man es immer wieder ausprobieren muss. Ich recherchiere und reise immer extrem viel, das ist aber nur zum Aufwärmen. Wenn die Proben beginnen, habe ich nicht die geringste Idee, was geschehen wird. Es gibt keinen „realistischen“ Zugriff, kein „realistisches“ Thema per se. Man kann sich nicht vorbereiten, und das ist auch der Grund, warum ich immer wiederhole, dass es kein „dokumentarisches Theater“ und auch keinen „Dokumentarfilm“ gibt. Realistisch zu arbeiten heisst ja schlicht und einfach, das Reale aus dem Schatten der Dokumente, der sogenannten „Aktualität“ ins Licht der Wahrheit und der Präsenz zu zerren. Dieses komplette Nichtwissen, das man dafür durchqueren muss, versetzt mich auch nach all den Jahren immer wieder neu in Panik. Nächstes Jahr zum Beispiel drehe ich einen Film über den kongolesischen Präsidentschaftswahlkampf, inszeniere in Gent ein Theaterstück mit Kindern und versuche, in Aleppo eine „Medea“-Adaption auf die Bühne zu bringen. Die drei Dinge haben ganz offensichtlich absolut nichts miteinander zu tun, ausser dass ich wirklich keine Ahnung habe, wie das funktionieren soll. Die Kinder in Gent beunruhigen mich genauso wie der Bürgerkrieg in Aleppo, fast sogar ein wenig mehr. Natürlich, den Ostkongo und seine Warlords kenne ich unterdessen ganz gut, aber in einem Land, das in einem Bürgerkrieg mit 6 Millionen Toten steckt, den Kandidaten der Opposition zu unterstützen, ist im Grund eine Anleitung zum Selbstmord. Vermutlich ist es also dieses bewusst in Kauf genommene Risiko gepaart mit der mir leider angeborenen kleinbürgerlichen Angst vor dem Scheitern, was meine Projekte verbindet und sie für mich „real“ macht. Denn die 20 Jahre, die ich nun als Soziologe, Aktivist, Autor, Film- und Theatermacher arbeite, sind eigentlich eine Geschichte von Dingen, die nicht funktioniert haben. Als Polit-Aktivist bin ich, wenn man ehrlich ist, sowohl in der Schweiz wie in Chiapas oder in Russland gescheitert. Das Ausländerstimmrecht wurde im Endeffekt nicht eingeführt, die Ausländergesetze wurden immer weiter verschärft in Europa. Nach Russland darf ich nicht mal mehr einreisen. Es sind aktuell sechs Prozesse gegen mich hängig, und voraussichtlich werde ich die Hälfte davon verlieren. Und im Kongo wurden im August zwei unserer Experten entführt – wir sind gerade dabei, sie da irgendwie wieder rauszuholen.

Rolf Bossart: Realismus heisst also: Sich einer Situation aussetzen, die unkontrollierbar ist – und zu versuchen, irgendwie seine Haut zu retten?

Milo Rau: Ja. Oder sogar eher: Eine Situation herstellen, die unkontrollierbar ist. „Realismus“ ist ja etwas völlig Artifizielles: ein Tribunal im Dschungel, ein Völkermordradio auf der Bühne, eine Partei zur Einführung des Ausländerstimmrechts, Schauspieler, die von der Inkontinenz ihres Vaters erzählen, das ist ja alles völlig künstlich. Es gibt dieses Godard-Zitat: „Realismus meint nicht, dass etwas Reales dargestellt wird, sondern dass die Darstellung selbst real ist.“ Dass eine Situation entsteht, die für die Beteiligten alle Konsequenzen des Realen in sich trägt, die moralisch, politisch und existenziell offen ist. Anders ausgedrückt glaube ich, dass der realistische Künstler utopische Lebenszeit generiert. Dass er versucht, in die Zukunft zu sehen. Manchmal kommt was dabei raus, manchmal nicht. Unser „Kongo Tribunal“ war nicht spielerisch gemeint, es war in jeglicher Hinsicht eine praktische Handlungsanweisung, es war ein offener Angriff auf die lokalen Machthaber und ihre internationalen Unterstützer. Das Tribunal fand in Anwesenheit der höchsten Regierungs- und Militärverteter statt, und dies am Ort des Geschehens selbst. Es war genau das Tribunal, hoffe ich, das in 20, 50 oder 100 Jahren an genau dem Ort stattfinden wird, um sich der 6 Millionen Toten dieses Konflikts anzunehmen. Von der Verrücktheit und vom realen Risiko her betrachtet war das „Kongo Tribunal“ so, als würde man im Nordirak die Führer des „Islamischen Staats“ zwingen, über Sinn und Unsinn der Scharia zu debattieren: jetzt, nicht erst in 10 oder 15 Jahren, wenn sie besiegt sind. Dieses Zwingen und Würgen der Wirklichkeit, damit sie das Imaginäre, das Utopische, das Zukünftige ausspuckt: das ist für mich realistische Kunst. Denn für den, der zu träumen wagt, ist alles möglich. Der Teufel lässt immer eine Lücke, in die der Künstler hineinkriechen kann, man muss sie nur finden.

Rolf Bossart: Wie müsste die Theorie einer solchen Kunstpraxis denn aussehen?

Milo Rau: xxx Für die heutigen Künstler geht es nicht mehr um private Befindlichkeiten, ausser in der Hinsicht, dass sich in unseren Seelen der objektive Horror unseres Planeten wiederholt. Xxx Es geht um die Menschheit, so simpel ist das. Vor ein paar Tagen hat mir ein schwarzer Schauspieler bei einem Casting in Brüssel erzählt, wie skurril er es fand, als er in Deutschland bei einem Kongo-Projekt mitgemacht hat. Das deutsche Regietam hätte gleich am Anfang der Proben einen Tisch auf die Bühne gestellt, sich dann als Hasen verkleidet und gerufen: „Lecture Performance!“ Der afrikanische Schauspieler hat dann in der Probenpause den Tisch entfernt, das deutsche Regieteam hat den Tisch aber immer wieder zurückgestellt und dem Schwarzen, der gern auf der Bühne herumrennen und Figuren verkörpern wollte, vorgeworfen, sein Theaterverständnis sei völlig konservativ. So ähnlich kommt mir die Realismus-Debatte in Deutschland vor: Die einen verstecken den Tisch, die anderen stellen ihn wieder auf und bezeichnen sich dabei gegenseitig als Retro-Trottel und hirntote Sklaven des Neoliberalismus.

Rolf Bossart: Aber was wäre denn eine angemessene Praxis und eine entsprechende Theorie des „Neuen Realismus“?

Milo Rau: Ich glaube, der Neue Realismus ist ein Versuch, die ungeheure Schere zwischen dem, was tatsächlich geschieht und dem, wie wir darüber sprechen, zu schliessen. Es ist bedauerlich, aber wir können uns nicht länger mit Pegida-Bashing und Repräsentationskritik beschäftigen, wenn die globale Wirtschaft längst übernational und ahistorisch agiert. Ahistorisch im Hegelianischen Sinn: Der Mensch und seine Geschichte sind aus den Berechnungen der Ökonomen als Bezugsgrössen ungefähr ebenso vollständig verschwunden wie die religiösen Hoffnungen der Spinnen und die messianischen Vorstellungen der Delphine. Xxx Wenn ich den Schock betrachte, den das Foto des ertrunkenen Jungen am Strand von Bodrum in den europäischen Medien ausgelöst hat, frage ich mich: Auf welchem Planeten leben wir eigentlich? Woher stammen unsere Bilder von dieser Welt? Wie haben sich denn all diese Leute, die sich – zum Glück – endlich engagieren, vorgestellt, woher unser Reichtum kommt? Die EU verfolgt, gemeinsam mit ihren korrupten Partnern in Afrika, im Nahen Osten, in China und in der ehemaligen Sowjetunion eine globale ökonomische Strategie, die komplett inhuman ist, die Millionen von Opfern fordert. Jede Sekunde stirbt ein Kind auf diesem Planeten als direkte Folge der globalen Wirtschaftspolitik. Die Destabilisierung ganzer Weltregionen, die Abermillionen von Flüchtlingen sind eine Bedingung unseres Reichtums, nicht ein Nebeneffekt. Ich wiederhole es immer wieder: Die Wahrheit Europas liegt in Zentralafrika, in der Ukraine, in Syrien. Es macht mich wütend, traurig und ratlos, wenn ich sehe, dass der äusserste Horizont der europäischen Selbstverständigung Calais, Lampedusa und Kos sind. Und da muss man sich ja schon freuen! Ich bin sie Leid, diese europäischen Diskurse der Machbarkeit, der Toleranz, der innereuropäischen Gegenseitigkeit und Kameradschaftlichkeit. Dieser Rausch der Barmherzigkeit und des Mitleids, das ist Herren-Rhetorik. Es ist diese humanistische Rhetorik, die mich süchtig gemacht hat nach Terror. Deshalb arbeite ich in Zentralafrika: Dort sehe ich dieses gutwillige Europa in seiner bösartigen Nacktheit.
Rolf Bossart: Man kann nur ausserhalb Europas zum Ethnologen des europäischen Denkens und der europäischen Praxis werden?
Milo Rau: Ja. Denn was habe ich denn in „Hate Radio“, in „The Civil Wars“ oder im „Kongo Tribunal“, die vorgeblich von Ruanda, vom Djihad, vom Kongo sprechen, anderes gefunden als eine Beschreibung Europas, der Werte des Abendlands? Das Schrecklich ist ja: Es gibt in der aktuellen Welt kein Anderes mehr, es gibt nur noch das multiplizierte Eigene, es gibt nur einen einzigen planetaren Innenraum, im Realen genauso wie im Imaginären. Dies ist die monotone Tragik des globalisierten Kapitalismus: dass die Sklaven sich nicht befreien, sondern mit den Herren zusammen über ihre Brüder herrschen wollen. Die Unterdrückten träumen den gleichen Traum wie die Unterdrücker, und es ist bedauerlicherweise der Traum vom luxuriösen Tod. Die aktuellen Künste haben nicht einmal den Ansatz einer Sprache gefunden für dieses Endspiel des Humanen, das sich aktuell vollzieht. Wir haben vorher über meine Anfänge als Aktivist gesprochen in den 90er Jahren. Als ich in den letzten zwei Jahren fürs „Kongo Tribunal“ wieder enger mit Jean Ziegler zusammengearbeitet habe, den ich von meinem damaligen Engagement her kenne, waren wir beide geradezu fasziniert, wie sich das, was Jean in den 90ern vorausgesagt hatte, sich in den letzten 20 Jahren global entfaltet hat. Der Sozialismus ist tot, die Klimakatastrophe ist unvermeidlich, die Geschichte der Menschheit neigt sich ihrem Ende zu. Und es gibt keine Kunst und keine Theorie, die nur annähernd auf der Höhe dieser Entwicklungen wäre.
Rolf Bossart: Durch die visuelle und emotionale Wucht von Ereignissen wie der gegenwärtigen Flüchtlingskatastrophe scheint die europäische Kunst nun aber von der Realität direkt zum Handeln aufgefordert zu sein. Daher ist, wie du ja angesprochen hast, eine seit ein paar Jahren sehr verbreitete Variante realistischer Kunst der sogenannte „Artivismus“. Wenn nun aber in deutschen Stadttheatern wie dem Theater in Bochum Passanten in einen LKW gesperrt werden, um das Elend der Flüchtlinge erfahrbar zu machen, beschleicht einen ein Unbehagen.

Milo Rau: Als Aktivist und Soziologe finde ich die Art und Weise interessant, wie Europa auf den plötzlichen Einbruch des Realen reagiert, das es so lange verleugnet hat. Denn es ist ja ganz egal, wohin du gehst ausserhalb unseres seit ein paar kurzen Jahrzehnten so glücklichen Kontinents: Du wirst überall riesige Flüchtlingslager finden, ganze Länder sind heutzutage Flüchtlingslager. Ausserhalb der europäischen Komfortzone ist Migration, Bürgerkrieg, gewaltige Deportationen und Massenmord Alltag. Angesichts dessen ist mir dieses kollektive Erschrecken, das die deutsche Öffentlichkeit in regelmässigen Abständen heimsucht unheimlich. Woher, stellt man sich vor, kommen all unsere billigen Rohstoffe und Waren? Wohin, denkt man, wird die von Europa unterstützte Politik der USA im Nahen Osten und in Afrika am Ende führen? Was nun den Toten-Transporter vor dem Schauspiel Bochum und ähnliche Aktionen angeht, so muss man natürlich den deutschen Sonderweg in die Aktionskunst bedenken. Dieser spezielle Kunstzweig wurde in Deutschland nach dem Krieg von den amerikanischen Besatzungstruppen mit einer radikalen Performance begründet: Die Bürger aus Weimar wurden durch Buchenwald geführt, um sich die Leichen anzugucken. Denn wie jetzt die Flüchtlingskatastrophe hatten die Deutschen den Mord an den europäischen Juden auf wundersame Weise „übersehen“. Die traumatisierende Schärfe dieser Buchenwaldaktion wurde von der deutschen Kunst nachher nie wieder auch nur annähernd erreicht. Es ist interessant, die Berichte von damals zu lesen, ich zitiere: „Im Hof des Krematoriums wurden die Weimarer mit zwei dort vorgefundenen Haufen abgemagerter Leichen konfrontiert. Anschließend führte sie der Weg durch die Baracken, wo Überlebende auf dreistöckigen Pritschen lagen. Sie waren in einem schlechten gesundheitlichen Zustand, viele zu schwach um aufzustehen. Weiter führte der Weg die Bürger zu den Reitställen, wo Tausende erschossen worden waren, sowie zum Forschungsblock, wo Ärzte tödliche Experimente an Menschen vorgenommen hatten. Viele der Besucher weinten, einige wurden ohnmächtig.“ Das ist quasi das Masterskript zur deutschen Toten-Kunst.

Rolf Bossart: Nur dass die Amerikaner weg sind und die deutschen Dramaturgen jetzt selber ran müssen… Ein Kritiker sprach übrigens im Hinblick auf den Bochumer LKW und ähnliche Aktionen von „radikalem Humanismus“: also eine Form der Erziehung durch Kunst, wie sie das amerikanische Entnazifizierungsprogramm praktiziert hat. Ist es nicht gut, wenn die deutschen Künstler pädagogisch aktiv werden, anstatt weiterhin folgenlos Klassiker zu dekonstruieren? Oder wie Matthias Lilienthal es auf den Punkt gebracht hat: „Lieber gute Sozialarbeit als schlechte Kunst?“

Milo Rau: Ja, natürlich! Am Ende des Tages ist das Nützliche nützlich und das Unnütze überflüssig! Aber es gibt dabei doch ein paar Probleme, denke ich. Das erste haben wir schon angesprochen: der Provinzialismus. Die Gesellenprüfung politischer Künstler – natürlich war das auch bei mir der Fall – besteht in Westeuropa seit ein paar Jahrzehnten darin, dass man in irgendeiner vollklimatisierten Fussgängerzone Zoff macht, bis irgendein Lokalpolitiker auf die Szenerie torkelt, „Skandal“ schreit und den Wachtmeister ruft. In meinem Biennale-Workshop vergangenen August habe ich, um das Gebiet auf die Schnelle zu durchqueren, fünf Gruppen gebildet, und jede hat eine politische Aktion in diesem Stil inszeniert. Eine Gruppe baute eine Brücke, über die sie senegalesische Strassenhändler gratis in die Länderpavillons schleuste. Eine zweite stellte sich die Lagunenstadt Ende des Jahrhunderts vor und produzierte dazu eine kleine Performance: ein Fake-Massaker auf dem Markusplatz plus der dazu passenden Nachrichtensendung. Eine dritte gründete eine Partei und sammelte Unterschriften für eine repräsentative Diktatur der Touristen in Venedig. Die vierte Gruppe verfolgte den Leiter der Biennale bis in sein Bett, um ihm die Frage zu stellen, warum sie 1000 Euro zahlen mussten für einen Meisterkurs, dessen Resultate die Biennale dann ans Publikum weiterverkaufte. Und die letzte erfand einen fiktiven schwarzafrikanischen Künstler, der im Arsenale gefälschte Vuitton-Taschen signierte und vor laufender Kamera an vor Rührung weinende Kuratoren verhökerte. Die Unterlassungsklagen von der Biennale und die herbeieilenden Polizisten etc. liessen natürlich nicht auf sich warten.

Rolf Bossart: Das widerspricht aber völlig deiner These von vorhin: dass realistische Kunst nicht lernbar ist. Denn offensichtlich wurden diese jungen Studenten in knapp 5 Tagen zu vollwertigen Kunstaktivisten.

Milo Rau: Nun ja, das ist ja das Geile daran: dass das so einfach ist! Denn du hast völlig Recht, künstlerischer Aktivismus ist in den letzten 25 Jahren zum Kunsthandwerk verkommen. Der aktivistische Künstler in Europa ist quasi ein Wutbürger mit guter PR-Strategie. Wie genau du vorgehst, ist eine eher zweitrangige Frage und hängt davon ab, ob du im Gymnasium die Yes Men, Schlingensief, Manzoni oder Heinrich Böll toll gefunden hast. Man kann das in ein paar Minuten lernen, und dann ist es eine Fleissfrage, fast so simpel wie Klassiker dekonstruieren. Was sagt uns denn der Toten-Transporter vor dem Schauspiel Bochum? Zu was fordert er uns heraus? Es ist unbestreitbar, dass es verwerflich ist, Menschen ersticken zu lassen. Das zu performen, ist keine politische, sondern eine moralische Aktion. Und diese Verständigung auf moralische Standards über den Umweg der Empörung ist ethnologisch interessant, für einen Historiker der europäischen Seele. Die bewusstseinverändernde Kraft des Ästhetischen kommt da aber gar nicht erst ins Spiel. Es tut mir Leid, das festhalten zu müssen, aber der realistische Künstler verkommt aktuell zum Organisator von Gedenkmärschen. Das ist natürlich gut so, es gibt ja weiss Gott genug Deppen da draussen. Was aber bei dieser Transformation von Kunst in Moral verloren geht, ist die Zweideutigkeit der künstlerischen Selbstermächtigung. Eine ähnliche Erfahrung machte ich übrigens auch an der Biennale: Während die ersten vier Projekte klug inszenierte, aber letztlich völlig klassische Aktionskunst-Ideen waren, ging die Gruppe mit dem gefälschten afrikanischen Künstler einen Schritt weiter. Anhand von Interviews konstruierten sie die ideale Flüchtlings-Biographie inklusive Genozid und Lampedusa und stülpten sie einem kenianischen Schauspieler über. Auf recht krasse Weise bildeten sie so genau das ab, was man aktuell unter engagierter Kunst versteht: Toten-Transporter im Kunstraum. Warum, fragte die Performance, sollte der afrikanische Genozid-Überlebende seine biographische Scheisse nicht gleich selbst verkaufen, als dafür einen europäischen Künstler als Zwischenhändler einzuschalten? Denn die von einem Bootsflüchtling signierte Tasche bringt, wenn man sie im Arsenale verkauft, fünfzig mal mehr als die Tasche eines normalen Illegalen, der mit dem Flugzeug eingereist ist. Diese natürlich zutiefst neoliberale Logik führte zu einem moralischen Unbehagen in der Studentengruppe und zu Unverständnis und Hass bei der Schlusspräsentation. Es war völlig unklar, ob man jetzt dafür oder dagegen oder beides gleichzeitig sein sollte. Das ist für mich Realismus: Ein einfacher Vorgang wird in die Realität tranportiert und zur „Situation“, in der man sich plötzlich nicht mehr orientieren kann.

Rolf Bossart: Diesen Willen, dich selbst in zweideutiger Weise zu involvieren, kann man bei vielen deiner Projekte beobachten. Vor zweieinhalb Jahren, im Vorfeld der „Zürcher Prozesse“ gegen Roger Köppel und seine „Weltwoche“, wurdest du Autor in der des Rassismus bezichtigten Zeitung. In Moskau warst du in Talkshows im Putinschen Staatsfernsehen zu sehen. Im „Kongo Tribunal“ schliesslich bekam der Oppositionspolitiker Vital Kamerhe prominente Auftritte, einige Kritiker vermuteten sogar, du seist sein Wahlkampfhelfer – gleichzeitig warst du auf den Morgenempfängen des Gouverneurs Ehrengast. In Paris bist du mit dem national geächteten Breivik-Apologeten Richard Millet aufgetreten, „Breiviks Erklärung“ hast du im EU-Parlament in Brüssel gespielt. Für solche Aktionen bist du in den letzten 10 Jahren immer wieder europaweit angegriffen worden und hast immer wieder auf die Notwendigkeit des realistischen Künstlers zur moralischen Selbstbeschmutzung hingewiesen. Warum diese in deiner Arbeit ständig präsente Geste – bis zum Fraktur-Banner „Schweiz Erwache!“, das im Rahmen der Aktion „City of Change“ über deinen Kundgebungen zur Einführung des Ausländerstimmrechts hing?

Milo Rau: Dieser aktuell überall sichtbare Wille, „gut“ zu sein, hat mich seit Anfang meiner Arbeit zutiefst misstrauisch gemacht. Vielleicht bin ich da einfach der Sohn eines moralisch zutiefst kranken Landes. Die grösste Schweizer Partei macht mit Hitler-Zitaten Wahlkampf, das kann man sich in Deutschland gar nicht vorstellen. Demokratie ist medialisierter Populismus, Europa ist eine Festung aus Eigeninteressen, Geld regiert die Welt – dieses Liedchen wird uns Schweizern an der Wiege gesungen. Ich habe einfach keine Lust, so zu tun, als wäre alles in Ordnung und die Menschheit auf einem guten Weg. Seien wir doch ehrlich: Schlingensief, der nun posthum von allen „Christoph“ genannt und gefeiert wird, wurde in Deutschland erst dann wirklich geliebt, als er sich von den Zweideutigkeiten seines Frühwerks verabschiedet hat und zum Messias der deutschen Humanitäts-Idee in Afrika geworden ist. Er hat dann am Ende versucht, das alles wieder in Zynismus, Trauer und Wut zu ertränken mit „Via Intolleranza“, aber da war er bereits zu krank. Ja, ich bin es Leid, dass alle Künstler auf einmal nur noch „gut“ sind. Inklusive meiner selbst, auch ich bin der Magie des Guten immer wieder verfallen, wie ein hypnotisierter Hase. Aber ich will nicht den Humanisten spielen in einem globalen System, das alle Qualitäten des klassisch Bösen erfüllt.

Rolf Bossart: Der realistische Künstler ist also der, der dieses „Böse“ sichtbar macht, es gewissermassen im Ritual der Kunst zeigt?

Milo Rau: Ja, denn das ist doch die zentralste Aufgabe der realistischen Kunst: ein unbewusstes Tun zu einem bewussten und damit moralisch und politisch fragwürdig zu machen. In meiner „Europa-Rede“, die ich anlässlich der Uraufführung von „The Dark Ages“ veröffentlicht habe, rufe ich dazu auf, das „Neue Europa“ zu vollenden, die Mittelmeergrenze zu sperren, Zentralafrika endgültig ökonomisch zu unterwerfen und die Ukraine zu erobern. Der Realist muss Vorschläge machen, die nicht annehmbar sind. Bilder zeigen, die man sich nicht angucken will oder die zu schön sind, als dass man sie erträgt. Ich weiss, das ist Oldstyle, aber es gab eine Zeit, da wurde das von den Philosophen erledigt. Es gab sogar eine Zeit, da wurde das von der Politik erledigt. Man stelle sich vor: Es gab noch vor 30, 40 Jahren Massenparteien, die den Kapitalismus tatsächlich vernichten wollten, die eine völlig andere Welt im Auge hatten! Da nun aber die Politiker Funktionäre geworden sind und die Philosophen unterm Joch von Bologna keuchen, ist das alles zur primären Aufgabe des Künstlers geworden. Denn das ist für mich die einzige Weise, realistische Kunst zu schaffen: Wirklich einzugreifen ins Getriebe der Welt, ins Getriebe der Geschichte. Trotz der ganzen beschissenen Zweideutigkeit jeder Position.

Rolf Bossart: Und trotz der Gefahr, sich zu täuschen und andere zu enttäuschen…

Milo Rau: Ja. Oder genau deshalb.

*Veröffentlicht in: Theater der Zeit, Oktober 2015.