Rolf Bossart: Die Recherche ist das Zauberwort eines kritischen und unabhängigen Journalismus. Seit dieser in der Krise steckt, hat zum Teil die dokumentarische Kunst seine Aufgabe übernommen. Mit dem Effekt, dass die Kunst vom Journalismus oft nicht zu unterscheiden ist. Liegt dieses Problem nur in der Darstellungsweise oder bereits bei der Recherche? Wie muss sich eine künstlerische Recherche von einer rein journalistischen unterscheiden?

Milo Rau: Das stimmt: Realistische Kunst hatte, praktologisch gesehen, immer eine Nähe zu den empirischen Wissenschaften (also zum Reportage-Journalismus oder zur qualitativen Soziologie). Man kann die Recherchen, die Flaubert oder Zola in der frühen Moderne für ihre Romane anstellten, nicht unterscheiden von den Feldstudien der zeitgleich entstehenden modernen Soziologie. Das gleiche gilt für die 20er Jahre: Hemingway, der stilbildendste Autor seines Zeitalters, war Reporter. Seine Romane sind autobiografische Reportagen. Das Theater muss sich nun, da es mit lebenden Körpern, mit ihrer Emotionalität und den damit zusammehängenden Gruppenprozessen, zu tun hat, seinem Wesen nach fast durchgehend mit kunstfernen Fragen auseinandersetzen. Dazu kommt, dass Kunst allgemein in gesellschaftlichen Umbruchzeiten eine Zwitterrolle einnimmt, d. h. Sinnbedürfnisse bedienen muss, die scheinbar erfolgreich ausgelagert worden waren. Wenn man nun die Entwicklung des Journalismus bzw. der journalistischen Recherche in den letzten 100 Jahren betrachtet, so sind die grossen Umbrüche investigativen Selbstverständnisses (Ende des 19. Jahrhunderts das Erscheinen des politisch engagierten Feuilleton-Intellektuellen, in den 20er-Jahren das Aufkommen der heroischen Reportage à la Riefenstahl oder Roth, in den 60er-Jahren der New Journalism und in den 90ern schliesslich die Pop-Reportage, der erste völlig aus der konsumistischen Lebensform entwickelte Recherche-Stil) immer gekoppelt an einen gleichzeitigen Umbruch in der Kunst.

Rolf Bossart: Womit hängt das zusammen und was ist denn die Situation heute?

Milo Rau: Die meisten stilbildenden Künstler waren in einer ersten Karriere Journalisten bzw. Kritiker: von Zola bis Godard, von Hemingway bis zu den Regisseuren der Berliner Schule. Was nun unsere aktuelle Lage angeht, so ist es interessant, wie das Ende der Postmoderne tatsächlich zu einem Paradigmen-Wechsel in der Kunst geführt hat. Die Rolle der Kunst wird wieder absolut grundsätzlich verhandelt, so wie zuletzt während der grossen kommunistischen und faschistischen Revolutionen in der Spätmoderne oder in den 70er Jahren. Daher das Bedürfnis, dass Werke keine Adaptionen oder Interpretationen mehr sein sollen (die meisten stilbildenden Werke der Postmoderne waren Romanadaptionen), sondern sich fundamental aus dem leeren Raum, aus der Wirklichkeit, aus den teamspezifischen Bedingungen etc. entwickeln sollen. Und wie gesagt betrifft die Ausdehnung des künstlerischen Felds nicht nur den Journalismus und seine Methoden, sondern auch die akademische Forschung, teilweise sogar den Politbetrieb und das juristische System. Im Grund erfüllt sich im Theater, wie ich es verstehe, aktuell das, was sich in der frühen Moderne ankündigte und dann im Kantischen Geschmacksurteil bekanntlich unterging: total zu sein, eine Universal-Kunst zu schaffen, wissenschaftlichen Massstäben genauso genügen zu wollen wie politischen oder ästhetischen. Ist ein Bild von Leonardo da Vinci „schön“ oder ist es eine anatomisch korrekte Aktstudie? Oder geht es da Vinci um eine Körperphilosophie, eine Feier des Physischen? Ich denke, alles zugleich. Ist die „Madame Bovary“ ein sozialpsychologisches Sachbuch oder ein Stilkunstwerk? Auch hier: beides gleichzeitig (wobei Flauberts halb-romantischer, halb-realistischer Stil in der „Madame Bovary“ ebenfalls eine interessante soziologische Analyse ermöglichen würde). Ist Evreinovs „Sturm auf den Winterpalast“ dokumentarisch oder propagandistisch, geht es um Geschichte, um gute Organisation und Lichtregie oder doch nur um Macht? Noch einmal: ununterscheidbar alles davon. Bei vielen, vielleicht allen meiner eigenen Projekte ist ebenso schwer zu sagen, welcher Sphäre sie zugehören. Es handelt sich um Mischwesen aus Forschung, Prozess, Installation, Theater, Autobiografie. Man ist ja das Kind seiner Zeit: einmal versucht die Kunst, sich dandyhaft von allem Empirischen zu entfernen, einmal wirft sie sich der Wirklichkeit emphatisch in die Arme. Für mich persönlich ist reiner Ästhetizismus und die damit zusammenhängende Ideologie des Elfenbeinturms eine Form der Feigheit. Die höchste Form der Existenz ist für mich die HEROISCHE ÖFFENTLICHKEIT. Warum sich selbst schützen – wenn die Welt ja niemand schützt? Eine Begleiterscheinung des absolut relativistischen Vorgangs der wirtschaftlichen Globalisierung nach dem Fall der Blöcke ist ja die, dass man auf einmal merkt: Es gibt nicht mehr viele Welten, es gibt eine Welt, in der wie im Traum eines frühneuzeitlichen Philosophen, auf einer bestimmten, nämlich ökonomischen Ebene Universalien gelten. Meine Beschäftigung mit der Kriegswirtschaft in den ostkongolesischen Minen hat mir eine alptraumhafte Welt gezeigt, die tatsächlich einem „Uhrmacher“ unterworfen ist: eine minimale Veränderung des Goldpreises an der Börse in Toronto führt über Nacht zum Zusammenbruch ganzer lokaler Wirtschaftssysteme und zu Hunger und Tod von Hunderttausenden Menschen. Es gibt aber kein Justizsystem, keine Sozial-Technologie, keinen investigativen Apparat, keine Kunst, die auch nur halbwegs auf der Höhe dieses tödlichen kapitalistischen Zentralismus wäre. Wie Althusser sagte: Der „Principe“ muss nicht nur in der Wirtschaft, er muss auch in der Kunst und der politischen Theorie gelesen und angewendet werden. Und da kommen dann eben die Künstler ins Spiel. Die Künstler mit ihrem – verglichen mit dem durchschnittlichen Journalisten – Überfluss an Zeit und Raum, ihrer internationalen Vernetzung, der Möglichkeit, ausführlich und ergebnisoffen, also eben wendig und macchiavellistisch zu recherchieren, zu planen, zu realisieren.

Rolf Bossart: Meist gibt es bei deinen Projekten in der Anfangsphase eine klare Fragestellung und einen entsprechenden Rechercheplan. Aber wenn man dann das Gesuchte findet, bedeutet das für dich oft, dass die Fragestellung unklarer wird und das Material der Recherche zumindest teilweise unbrauchbar. Kannst du etwas über diesen Vorgang sagen?

Milo Rau: Das Langweiligste in der Kunst ist es, Bescheid zu wissen bzw. zu wissen, was man tut. Ich war immer gegen diese dokumentarische Logik, die im Theater ja neuerdings sehr verbreitet ist: Man fährt an diese oder jene Orte, man lädt diese oder jene „Experten“ ein, weil man eben genau dieses oder jenes wissen und zeigen will. Daraus entstehen dann all diese Themen-Projekte, in denen eine Handvoll Leute, die irgendwas zum Tod, zum Geld, zu irgendeiner sozialen Praxis oder zu einem Buch zu sagen haben, das auf der Bühne oder, was noch deprimierender ist, auf irgendeinem Parcours im Stadtraum sagen müssen. Für mich ist Recherche nicht das Heranschaffen von Informationen oder Menschen, für mich ist Recherche eine grundsätzliche Erkenntnisform. Was nun die praktische Brauchbarkeit von Material angeht, sehe ich das dialektisch: Wir haben für „The Civil Wars“ ein halbes Jahr lang ganze Leitz-Ordner mit Interview-Transkriptionen gefüllt, die wir mit Djihadisten und ihren Familien geführt haben, um dann absolut nichts davon für das Stück zu verwenden. Auf einer anderen, privaten Ebene kehrte aber der „Heilige Krieg“ wieder, oder genauer gesagt: Das Private wurde überhaupt erst lesbar im Spannungsfeld des Djihad. Ähnlich wars bei „Hate Radio“: Das ist ein Stück, in dem ich meinen Privat-Zynismus der Grunge-Zeit anhand eines Völkermord-Radios „gelesen“ habe. Ich sammle Material nur, um es absolut, bis zur faktischen Unkenntlichkeit zu transformieren. Nehmen wir meine Prozessprojekte: Da recherchiert man jahrelang, um am Ende zu einem Urteil zu kommen, das in drei Minuten verlesen ist. Das sind, genau betrachtet, Recherche-Vernichtungs-Projekte.

Rolf Bossart: Das erinnert an die grosse Studie von Horst Bredekamp über den Petersdom, den er als die Summe aller vernichteten Vorgängerbauwerke liest. Oder an den Witz, in dem Erich Honecker mit dem Teufel die Hölle besichtigt, Abteilung sozialistische Führer. Alle stecken bis zur Halskrause im Morast, ausser Stalin, weil er auf den Schultern von Trotzki steht. Damit einer oder etwas am Schluss herausragt, braucht es einen Untergrund.

Milo Rau: Untergrund ist ein schöner Begriff. Und vor allem natürlich die Tatsache, dass man diesen Untergrund selbst herstellt: Recherche, wie ich sie verstehe, bedeutet ja nicht, dass man einfach ein paar Informationen sammelt, die man nachher benutzen kann. Recherche heisst, einen Boden zu erkunden, auf dem man stehen kann, eine Atmosphäre, in der ein Werk atmen kann. Die klassische postmoderne Strategie des „Herausragens“, der ich in meinen frühen Arbeiten wie „Paranoia Express“ (2002) oder „Bei Anruf Avantgarde“ (2005) anhing, war die der Adaption. Man benutzte eine Text-Grundlage (meistens klassische Romane, Filme oder Theaterstücke), mischt sie mit einem Genre (dem Film Noir, der TV-Show oder dem Mafiafilm), einigen Laien in Statistenrollen (chorisch oder als Subjekte) und würzte die Sache mit feuilletonistischen Tagesdiskursen (die Willensfreiheit, die Schwulenehe, die afrikanische Flüchtlingskatastrophe oder irgendwelche Facebook-Entfremdungsdebatten). Bei dem aber, was wir hier Recherche nennen, handelt es sich ums glatte Gegenteil. Es ist eine völlig andere Strategie, ins „Fremde“ einzudringen. Im Grund geht es in dem, was ich mit Recherche meine, darum, das Fremde im hermeneutischen Sinn zu verstehen, also es in seiner Fremdheit zu einem Eigenen zu machen. Das Fremde muss – und das ist Recherche – zur innersten Notwendigkeit des Eigenen werden: zu einer Selbsterklärung. Ich weiss, dies alles klingt ganz schön unterkomplex. Aber es kommt mir manchmal so vor, als müsste meine Generation die basalsten Fragen nach Repräsentation, nach dem Ursprung des kollektiven Ereignisses (EREIGNIS) und damit nach der Legitimation des subjektiven künstlerischen Aktes noch einmal stellen. Warum Kunst? Auf diese Frage hätte ich noch als 25jähriger mit dem Begriff der Jouissance geantwortet: Weil es geil ist. Geil ist es noch immer, ich erlebe bei jedem Projekt Momente absoluter intellektueller und vor allem sozialer EKSTASE. Aber auch wenn es Beobachtern z. B. des „Kongo Tribunals“ so vorkommen mag, als wären wir Reiter auf dem Bodensee, als würden wir auf Eissschollen über einen reissenden Strom tänzeln, so ist der eigentliche Bewusstseinsvorgang kein hysterischer oder manischer. Sondern einer der bewussten Vernichtung und Synthetisierung von erklärender Information und vorbereitender Handlung, um am Ende die reine, die absolut lebendige und präsente Handlung als Werk hervorzubringen.

Rolf Bossart: Francis Bacon sagt über die alten Maler, dass sie nur etwas aufzeichnen wollten, doch in Wirklichkeit taten sie dabei etwas, das viel mehr war als nur aufzeichnen. Heute ist die Situation eine völlig andere, man braucht nichts mehr aufzuzeichnen. Dafür ist die Versuchung gross, direkt dieses „mehr“ anzustreben, was nur ganz selten funktioniert. Ist nicht deine aufwändige Recherchearbeit dieser Haltung des blossen Aufzeichnens verwandt?

Milo Rau: Aufzeichnen ist etwas, dem ich geradezu sklavisch huldige. Das dreitägige „Kongo Tribunal“ haben wir mit 7 Kameras aufgezeichnet, davor haben wir ein Jahr lang im Ostkongo gedreht, das ergab über 300 Stunden Material für den Film. Mein Traum ist es, in einem riesigen Ballsaal zu sein, mit 1000 Menschen. Jede Regung, jede Geste, jedes Wort wird aufgezeichnet und „nichts geht verloren“, wie bekanntlich Tschechow auf seinen Ring prägen wollte. Ich denke, dem sind wir mit unseren Prozessen und Tribunalen schon sehr nah gekommen, vielleicht so nah, wie man dem Begriff des „Theatrum Mundi“ überhaupt mit technischen Mitteln kommen kann. Im „Kongo Tribunal“ haben wir 600 Menschen mitten im Bürgerkriegsgebiet in einem kolonialen Kino- und Theatersaal versammelt, vom Rebellen und Minenarbeiter bis zum General und Gouverneur waren alle da, alle Stimmen wurden gehört, alle Verhaltensweisen, die Worte der Macht und die Worte der Revolte, der Gier und der Trauer, aufgezeichnet im hellen Licht des grössten Generators, den wir in ganz Zentralafrika auftreiben konnten. Denn wie du richtig sagst: das „Mehr“, diese unendlich feine, diese widersprüchliche menschliche Wahrheit kriegt man nicht direkt, sondern nur über den alten Kleistischen Umweg des absolut Artifiziellen, der Kombination der Gegensätze auf dem berühmten Operationstisch der Surrealisten. Was kann denn künstlicher sein, als wenn man den Minenminister mit dem Minenarbeiter, die vertriebene Bäuerin mit dem Firmenchef in einen Raum bringt? Natürlich, der „Einbruch des Realen“ – etwa der Überfall der Kosaken bei den „Moskauer Prozessen“ – ist ein Glück. Aber auch das wird, erst wenn es aufgezeichnet ist, wenn sein Bezug zum Rest, zu den 3 Tagen, in die sie einbrechen, also innerhalb des Werks geklärt ist: zur Kunst. Sonst ist es nur stumpfer Hooliganismus, dümmliche orthodoxe Aktionskunst. Und, was meine Reaktion angeht, moralischer Kommentar.